Schutzwall für Jurist:innen

Jurist:innen gelten als Wissens- und Vielarbeiter. Im Idealfall zeichnen sie sich vor allem durch vier Besonderheiten aus: fachliche Expertise, langjährige Erfahrung, Schreibkompetenz und Beziehungs- bzw. Kontextwissen. Diese Kennzeichen stellen gleichzeitig auch eine Art Schutzwall gegen Konkurrenz dar. Doch einige der Schutzwälle sind bereits gefallen bzw. drohen, es bald zu tun.

Schutzwall 1 ist verschwunden: Fachwissen ist mit Internet demokratisiert worden

Vor der Jahrtausendwende galt es noch als ausgewiesene Kompetenz, juristisches Fachwissen in physischen Bibliotheken zu finden. Mit dem Aufkommen des Internets bemühten sich die Jurist:innen, darauf hinzuweisen, wie unvollständig und fehlerhaft die elektronische Datenbank sei und die händische Recherche nicht ersetzen könne (#80/20-Regel). Fragt man sie heute, stellt man fest, dass sie sehr entspannt im Internet surfen und hierzu erklären, intelligenter als andere zu googeln (#Prompt Engineer) und die Relevanz der erhaltenen Hits besser beurteilen zu können. Der «Gral des juristischen Wissens» wird nicht mehr reklamiert und ist allen einfach und schnell zugänglich geworden (#Access to Justice). Die Universitätsbibliotheken werden von den Studierenden zwar auch heute noch gerne frequentiert, aber nicht wegen den Büchern, sondern um in Ruhe zu lernen.

Schutzwall 2 ist stark beschädigt – Es wird weniger Erfahrung gesammelt

Mit den insbesondere bedingt durch die Pandemie beschleunigten neuen Arbeits- und Arbeitszeitbedingungen (#New Work) sind viele Freiheiten gewonnen worden (z.B. zeitliche Flexibilität, Ortsunabhängigkeit, Teilzeitarbeit). Gerne wird dabei verdrängt, dass damit auch Nachteile verbunden sind, für jeden Einzelnen (#Proximity Bias) und das Unternehmen (z.B. Loyalitätsverlust, Administrationsaufwand, rechtliche Konsequenzen). Um zum Beispiel eine quantitative Beurteilung der Folgen von Teilzeit vorzunehmen, muss man kein Mathematiker sein: Wer weniger arbeitet, wird zwangsläufig auch weniger Erfahrung sammeln können. Entsprechend ist ein qualitativ schlechteres Arbeitsresultat zu erwarten – ein Mitarbeiter mit halb so viel Erfahrung wird eine Arbeit weniger gut erledigen. Das führt neben einem zahlenmässigen auch noch zu einem qualitativen Fachkräftemangel. Testen Sie es selbst aus: Fragen sie sich beim nächstes Arztbesuch, ob sie lieber vom Teilzeitarzt oder vom erfahreneren Mediziner untersucht werden wollen.

Schutzwall 3 bröckelt gerade – Schreibkompetenz durch KI bedroht

Eine Kernkompetenz von Jurist:innen besteht darin, besser als andere schreiben und Texte verfassen zu können. Neue Formen von künstlicher Intelligenz (#ChatGPT) laden gerade dazu ein, diese Arbeit ganz, teilweise oder zumindest im ersten kreativen Moment der Denkarbeit an die Technik auszulagern. Je mehr man das macht, desto eher verliert man die eigene Schreibkompetenz und damit das entsprechende Urteilsvermögen. Denn wie soll die Plausibilität von überzeugend formulierten Texten kritisch beurteilt werden können, wenn man keine eigene Erfahrung und Vergleichswerte mehr hat? Um das an einem anderen Bild zu erläutern: Wie kann man beurteilen, ob ein Kochrezept gut ist und wie man es abändern kann und vielleicht sogar muss, wenn man keine eigene Kocherfahrung (mehr) hat?

Schutzwall 4 at risk – Kontextwissen noch ein Wettbewerbsvorteil

Künstliche Intelligenz (KI) kann heute aus einer Fülle von Daten beeindruckend gut relevante Informationen suchen und kombinieren (#Syntax). Aber weniger gut ist sie (noch) in der Nutzung der richtigen Begriffe, weil sie die Bedeutung der Worte nicht perfekt versteht (#Semantik). Ferner fehlt ihr insbesondere auch die Kenntnis des für eine Beurteilung relevanten Zusammenhangs. Solches Kontextwissen müssen Anwälte insbesondere in der Beratung ihrer Kunden besitzen (#Know Your Customer). Sie benötigen es aber auch in der betriebswirtschaftlichen Führung ihrer Kanzleien und Rechtsabteilungen (#Legal Operations bzw. #Legal Management). Für beide Anwendungsfälle ist heute auch Zusatzwissen in Gebieten wie strategische Positionierung, innovative Geschäftsmodelle, Leadership (#Höhlenmensch), gute Kundenkenntnis (#KYC) und angemessenes Risiko- und Krisenmanagement für einen langfristigen Erfolg unerlässlich.

Schutzwall 5 ist (noch) intakt – Beziehungspflege als letzte Bastion?

Man sollte nicht vergessen, dass Aufträge von Menschen erteilt werden, auch wenn sie in Unternehmen arbeiten. Und trotz aller technischen Errungenschaften sind sie Höhlenmenschen geblieben, die für den direkten menschlichen Austausch weiterhin empfänglich bleiben. Die Jurist:innen laufen aber Gefahr, diesen einzigartigen Wettbewerbsvorteil (#USP) zu verlieren. Denn sie müssen ihre Arbeit nicht zwingend wie ein Arzt am «lebenden Objekt» verrichten. Die erforderlichen Sachinformationen können auch bequem über E-Mail, PDF, Videocall oder Chat ausgetauscht werden. So wird jedoch automatisch auch weniger Erfahrung im Zusammenhang mit menschlicher Kommunikation, Kundenkontakt und Beziehungspflege gesammelt. Damit geht das wichtigste «Schmiermittel» verloren: die menschliche Beziehung.

Empfehlung: Der süssen Versuchung – überlegt – widerstehen

Die juristische Fachexpertise bietet für Jurist:innen im Wettbewerb kein ausreichendes Unterscheidungsmerkmal mehr. Überdies schaffen neue Arbeitsmodelle nicht nur mehr Flexibilität und Freiheiten, sondern auch Erfahrungsmangel und Distanz zum Kunden und Teammitgliedern. Als Konsequenz davon reduziert sich die Nähe zum Arbeitsplatz, die Loyalität zum Arbeitgeber und die Beziehung zum Kunden. Die mangelnde Unterscheidungskraft und geringere Abhängigkeiten führen zu einer erhöhten Austauschbarkeit – unter Anwälten und in Bezug auf die Technik. Um diese Risiken zu reduzierten sollte nicht nur in Fachexpertise, sondern vermehrt auch in Kunden- und Beziehungspflege investiert und darauf geachtet werden, komplexer zu werden und unternehmerischer zu arbeiten.

Es bleiben folgende Fragen zu beantworten: Werden die neu geschaffenen Gelegenheiten zur Steigerung der Bequemlichkeit in Form von grösseren Datenbanken, höherer Geschwindigkeit und KI zwangsläufig auch zu Qualitätseinbussen bei Anwält:innen und der juristischen Dienstleistung führen? Und wenn ja, wie sollen und können Jurist:innen als Unternehmer darauf reagieren? Oder wird gerade der technologische Fortschritt diese Mängel kompensieren? Und falls nicht, müssen wir uns in unseren Möglichkeiten selbst limitieren, weil die damit einhergehenden Nachteile zu gross sind? Ich bin gespannt auf ihre Einschätzung!

Über uns

Der Geschäftsbereich «Law & Management» der Executive School der Universität St.Gallen (HSG) bietet seit 2007 auf allen Stufen (Wochenseminare, CAS, DAS, Executive Master) aktuell acht Themengebiete als offene Programme und massgeschneiderte Inhouse-Angebote an. Bisher haben mehr als 1600 Teilnehmende die laufend aktualisierten und erweiterten offenen Weiterbildungsformate besucht. Das 2021 eingeführte umfassende Weiterbildungsformat ist ein klares Bekenntnis zum lebenslangen Lernen, indem neu alle Kurse konsequent modular aufgebaut sind sowie zeitlich flexibel und gemäss individuellen Bedürfnissen zusammengestellt werden können. Darüber hinaus werden folgende Weiterbildungsziele verfolgt: vielfältige Karriere-Perspektiven und -Optionen kennenlernen, Netzwerke auf- und ausbauen, neue Methoden und Tools erschliessen und generell die eigenen Horizonte erweitern.

Über die Autorin / den Autor

1 Bruno Mascello UNI SG PORTRAIT 0112222287 INTERNET

Prof. Dr. Bruno Mascello Academic Director Law & Management

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