Für moderne Gesellschaften ist das Schlaraffenland scheinbar weit weniger faszinierend, weil uns kein Hunger und Durst mehr plagt. Heisst das, dass der Traum in Erfüllung gegangen ist und wir heute tatsächlich im Schlaraffenland leben? Wir haben einmal ein paar Freunde und Kollegen gefragt. Niemand war der Meinung, im Schlaraffenland zu leben, auch wenn es uns im Vergleich etwa zum Mittelalter oder zu ärmeren Entwicklungsländern doch „verdammt gut“ geht. Allerdings plagen uns heutige Menschen in den westlichen Ländern doch wirklich kein Hunger und Durst. Und wir haben sicher auch nicht die Sehnsucht, dreimal mehr zu essen als wir das täglich tun. Es wäre natürlich schon spektakulär, wenn uns die gebratenen Hühnchen in den Mund fliegen würden; aber ehrlich betrachtet wäre der Reiz hiervon recht bald verflogen.

Was also macht es denn eigentlich aus, dass wir trotz allem nicht den Eindruck haben, im Schlaraffenland leben, obwohl es uns doch so gut geht? Die Antwort auf diese Frage liefert eine fundamentale Einsicht in die wirtschaftlichen Grundprobleme einer Gesellschaft. Überlegen Sie am besten erst einmal selbst, was Ihr Leben vom Leben im Schlaraffenland unterscheidet…

Wie sehen Wirtschaftswissenschaftler den Unterschied zwischen unserem modernen Leben in Reichtum und dem Schlaraffenland?

Im eigenen Leben kennt (fast?) jede und jeder von uns unerfüllte Wünsche. Und sie sind der Grund, warum wir nicht im Schlaraffenland leben!

Unerfüllte Wünsche führen uns zu dem, was die Wirtschaftswissenschaftler das Prinzip der Knappheit nennen. Es wäre schön, viel mehr Freizeit zu geniessen, um mehr Zeit für Hobbies, Familie und vielleicht noch ein weiteres Studium zu haben. Aber das bedeutet gleichzeitig, zu weniger Prozenten zu arbeiten und ein geringeres Einkommen in Kauf zu nehmen. Wir müssen somit auf andere Dinge verzichten, die wir uns ebenfalls „wünschen“! Im genannten Beispiel ist es Zeit, die knapp ist und die uns zwingt, Entscheidungen zu treffen und abzuwägen, was uns wichtig ist. In der Sprache der Ökonomen ist Zeit ein Beispiel einer knappen Ressource. Auch Einkommen und Vermögen sind für die meisten von uns knappe Ressourcen. Wer hat nicht den Traum, sich etwas anzuschaffen, das sie oder er sich nur leisten kann, wenn auf etwas anderes verzichtet wird? Vielleicht geht der Ferrari auf Kosten einer wunderschönen Eigentumswohnung im grünen Aussenbezirk der Grossstadt X. Und wenn Ihnen wie uns der Ferrari nichts bedeutet, dann gibt es sicher an seiner Stelle etwas anderes, vielleicht eine besonders gute Privatschule für die Kinder… Permanent sind wir also mit knappen Ressourcen wie Zeit und Einkommen oder Vermögen konfrontiert und müssen lästige Entscheide treffen, die auf Abwägungen beruhen.

Mehr vom einen bedeutet weniger vom andern: das ist kurz gefasst die Maxime für jene, die ausserhalb des Schlaraffenlandes leben. Sie sind zum Abwägen verdammt. Und was für einzelne Individuen zutrifft, das gilt auch für ganze Gesellschaften. Es wäre schön, allen Mitgliedern der Gesellschaft einen grosszügigen Lebensstandard zu garantieren, die beste Schulbildung zu vermitteln, die beste medizinische Versorgung, und die beste Kultur noch obendrauf. Im Schlaraffenland wäre das in einem Augenaufschlag alles schon passiert. Niemand hat dort weniger, weil eine andere mehr hat. Das Schlaraffenland ist perfekt egalitär! Kein Land ist fairer als das Schlaraffenland! Aber würde uns das wirklich glücklich machen? Wir hätten keine Visionen und Ziele, die es unter Anstrengung zu erreichen gilt. Wir hätten keine Möglichkeit mehr, uns sozial zu vergleichen und zu verankern. Wahrscheinlich käme uns der Sinn des Lebens abhanden.

Kommen wir zurück in die Welt der Nichtschlaraffenländer: Hier kommt man um lästige Abwägungen nicht herum. Mehr Einkommensunterstützung für diejenigen, die in einer modernen Marktwirtschaft ein unterdurchschnittliches Einkommen erwirtschaften, bedeutet mehr Steuern für diejenigen mit einem hohen Einkommen und mehr Leute bei der staatlichen Administration, welche die Umverteilung in der Praxis ausführen (inklusive mehr Kontrolle von Steuerhinterziehung). Einmal mehr sind wir als Gesellschaft zum Abwägen gezwungen.

Die Volkswirtschaftslehre ist die Lehre von genau diesen Abwägungen. Sie untersucht einerseits, wie Menschen diese Abwägungen vornehmen. Andererseits versucht sie zu helfen, diese Abwägungen rational vorzunehmen. Und damit ein wichtiges Fachwort noch gefallen ist: Ökonominnen nennen diese Abwägungen Tradeoffs. Die Ökonomie ist also die Lehre von rationalen Tradeoffs. Individuen, Firmen, Gesellschaften: Alle müssen sie sich den Tradeoffs stellen, die durch knappe Ressourcen unabdingbar sind!

Aber das war jetzt vielleicht eine etwas umständliche Erklärung der Wirtschaftswissenschaften. Das Bild des Schlaraffenlandes lässt dies viel plastischer ausdrücken: Ökonomie ist die Wissenschaft, die sich damit beschäftigt, wie man ausserhalb des Schlaraffenlandes überlebt. In den Universitäten des Schlaraffenlandes gibt es vielleicht die germanistische, die philosophische und die filmwissenschaftliche Fakultät. Aber die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät sucht man dort vergebens!

Hier finden Sie Teil II, Teil III und Teil IV dieser Serie.

Zur Ökonomie ausserhalb des Schlaraffenlandes mehr in einem nächsten Beitrag. Hat Sie der Beitrag etwas zum Denken angeregt? Oder noch nicht genug? Dann hier noch etwas mehr Stoff… Sie treffen eine Person, welcher materieller Wohlstand nichts bedeutet. Abgesehen von Basisbedürfnissen. Die Person beschäftigt sich vielleicht mit spirituellen Dingen, macht Yoga oder ist sehr religiös und engagiert sich stark in der Kirche. Heisst das, dass diese Person keine wirtschaftlichen Abwägungen machen muss? Lebt diese Person im Schlaraffenland?

Über die Autorin / den Autor

Johannes Binswanger 1

Prof. Dr. Johannes Binswanger Professor für Volkswirtschaftslehre

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