„Obwohl meine Handlungen über Leben und Tod entscheiden, verdiene ich in etwa gleich viel wie ein ausgelernter Kaufmann ohne jegliche Verantwortung“, erzählt Anna, 27 Jahre alt und seit kurzem diplomierte Pflegefachfrau. Als solche arbeitet Anna in einem systemrelevanten Bereich – das wurde vor allem während der Corona-Krise klar. Aber wer und was als systemrelevant gilt hängt nicht zuletzt vom Kontext ab. Relevant für das System – notwendig, um unsere Gesellschaft zu erhalten – sind auf längere Sicht fast alle Berufe, egal ob Handwerker oder Strategieberater.

Der Begriff „systemrelevant“ wurde während der Finanzkrise 2008 erstmals breitflächig verwendet. In der damaligen Krise wurden bestimmte Banken als systemrelevant kategorisiert und in der Folge mit Staatsgeldern gestützt. Jetzt, während der Covid-19 Pandemie, gelten ganz andere Einrichtungen und ihre Mitarbeitenden als systemrelevant: vor allem in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Verkehr, Logistik und Kinderbetreuung.

Viele Angestellte, die in sozialen Bereichen arbeiten oder andere wichtige Güter herstellen, tummeln sich aber eher am Ende der Lohnkette. Anna hält dies für den Auslöser der vielen Diskussionen rund um die Vergütung im Pflegebereich. „Menschen stehen auf ihren Balkonen und klatschen während der Corona-Zeit für uns, aber gleichzeitig wird die Pflegeinitiative der SBK in der Politik überhaupt nicht ernstgenommen“, äussert sie enttäuscht.

An Anerkennung im Pflegeberuf fehle es ihr eigentlich nicht, sagt Anna. „Ich werde von meinen Patienten und Patientinnen sehr geschätzt und bekomme viel Anerkennung auf persönlicher Ebene.“ Nur eben die Wertschätzung der Politik fehle, was sich in den tiefen Löhnen widerspiegele.

 

Unterschiedliche Gründe für Lohnunterschiede

Es existieren verschiedene Arten von Anerkennung. Dr. Stephan Hostettler, Vergütungsexperte und Gründer von HCM International, spricht über drei Arten von Anerkennung bei Angestellten: Feedback, Developement und Pay. Rückmeldungen zur geleisteten Arbeit sowie Zukunftsaussichten im Beruf haben neben der Vergütung Einfluss auf die Mitarbeiterzufriedenheit. Aber was hat das jetzt genau mit den niedrigen Löhnen in den momentan systemrelevanten Bereichen zu tun?

Befasst man sich mit Gründen für Lohnunterschiede, denkt man zuerst an Umstände, die mit der Funktion des jeweiligen Berufes zusammenhängen – funktionale Argumente also. Dazu gehören beispielsweise die Ausbildungszeit, das benötigte Wissen für die Ausübung der Arbeit und die Verantwortung, welche es in der jeweiligen Funktion zu tragen gilt. Andererseits aber auch die Kapitalverfügbarkeit und die Finanzierungsweise des Arbeitgebers – also wie gut dieser finanziell dasteht. Kurz: Je wichtiger meine Position und je mehr Geld in meinem Geschäftsbereich vorhanden ist, desto mehr Lohn bekomme ich – das klingt erstmal ganz logisch.

Diese funktionale Dimension erklärt viele relative Lohnunterschiede, z.B. wieso eine Kassenmitarbeiterin oder eine Reinigungskraft weniger verdienen, als ein Arzt. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang auch die systematisch niedrigeren Löhne von Frauen.

Ein Blick auf Berufe im sozialen Bereich, bei denen viel Verantwortung und eine lange Ausbildungszeit selbstverständlich dazugehören, macht klar: Die funktionale Dimension allein reicht nicht als Erklärung für tiefere Löhne. Lehrer, Kinderbetreuer oder im Fall von Anna auch Pflegefachkräfte brauchen häufig mehrere Jahre Ausbildung und bekommen viel Verantwortung. Sich täglich um andere Menschen zu kümmern stellt eine grosse psychische Belastung dar und soziale und pädagogische Berufsgruppen sind nicht ohne Grund stark burnout-anfällig. Es müssen also noch andere lohnentscheidende Gründe existieren.

 

Sind die Rahmenbedingungen wichtiger?

Nicht zu unterschätzen ist hierbei die Rolle der Kultur, des Arbeitsklimas und der dadurch entstehenden Erwartungen der Angestellten in der Vergütungspolitik. Diese kulturelle Dimension entscheidet darüber, wie wichtig die unterschiedlichen Arten von Anerkennung – Rückmeldung, Entwicklung und Bezahlung – sind.

Für Anna ist das Feedback der Patienten und diesen helfen zu können Motivation genug, in der Pflegebranche zu arbeiten. Die Arbeit erfülle sie, auch ohne hohe monetäre Vergütung. “Wenn ich mega viel verdienen wollte, hätte ich etwas anderes gelernt oder mich jetzt noch umschulen lassen. Ich bin momentan schon zufrieden so”, meint sie. Wenn Anna etwas an ihrem beruflichen Alltag ändern könnte, dann würde sie mehr Pflegepersonal einstellen damit sie sich mehr Zeit für die einzelnen Patienten nehmen dürfte. Ihren Ansprüchen den Patienten gerecht werden zu können, sei für sie wichtiger, als ein paar Franken mehr zu verdienen.

Auch im pädagogischen Berufsfeld werden kleinere Klassen und mehr personelle Unterstützung gefordert, um den Alltag der Kinder verbessern zu können. Der monetäre Verdienst wird oft in den Hintergrund gestellt. Paradoxerweise bedeutet dies vor allem für soziale Berufe, dass die Motivation und Anerkennung in diesen Berufsfeldern gleichzeitig eine hohe Belastung und einer Erklärung für die niedrigere Vergütung darstellen.

 

Änderungen in Sicht?

Dass in den angesprochenen Berufsfeldern vergleichsweise wenig Lohn bezahlt wird, lässt sich einfach überprüfen. Es ist unbestritten, dass diese Berufe während der Krise immer wichtiger geworden sind, sich ihre Vergütung aber nicht angepasst hat.

Wieviel Geld am Ende des Monats auf dem Konto landet, hat viele verschiedene Gründe – „Systemrelevanz“ ist momentan keiner davon. Die aktuelle Diskussion zeigt aber, dass bei den Beschäftigten das Bedürfnis wächst, höhere Löhne einzufordern. So könnte das Argument der Systemrelevanz indirekt tatsächlich zu einer besseren Bezahlung beitragen: indem sie Beschäftigte motiviert, der Entlohnung künftig grösseres Gewicht beizumessen.

Die einzige Schwierigkeit: Sobald SARS-CoV-2 in den Hintergrund rückt, werden wieder andere Themen die öffentliche Agenda bestimmen. Die Rufe nach fairer Vergütung müssen dann sehr laut bleiben, um weiterhin gehört zu werden – und eine Veränderung herbeizuführen.

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Executive School of Management, Technology and Law

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