Eine HSG-Studentin fragt eine Anwältin im Februar 2022, ob sie in Request for Proposals (RFPs) bereits Informationen zu ESG liefern müsse. Die Anwältin antwortet: «Das Ganze ist für uns Kanzleien etwas übertrieben. ESG ist für uns Kanzleien nicht relevant. Wir sind ein Rechtsdienstleister und müssen dem Klienten helfen, seine Transaktionen rechtlich gut durchzuführen.»
Diese Auffassung ist aus meiner Sicht in verschiedener Hinsicht zu kurz gedacht. Rechtsdienstleistende sind in Fragen der Nachhaltigkeit sehr wohl, und zwar gleichzeitig an zwei Fronten gefordert: Als Beratende ihrer Kund:innen und als Verantwortliche der eigenen Unternehmung oder Abteilung.
Kundenverständnis ist für Berater gut fürs Geschäft …
Die gute Nachricht vorweg: Für Rechtsberatende entstehen immer wieder neue Themenfelder, für die Kund:innen eine Beratung benötigen. Das ist für Kanzleien gut fürs Geschäft und den Rechtsabteilungen hilft es für die Daseinsberechtigung. In den letzten Jahren zähle ich unter anderem folgende neuen Herausforderungen dazu: Compliance, Datenschutz, Cybersicherheit, ESG und neu die KI. Will man Kund:innen einen rechtlich korrekten und für ihr Tagesgeschäft nützlichen Rechtsrat erteilen, ist es unumgänglich, als Rechtsberatende das Umfeld der Kund:innen, ihre Nöte und Bedürfnisse zu kennen. Heute gehört das Thema Nachhaltigkeit dazu.
Um die Kunden von der eigenen Dienstleistung zu überzeugen, reicht es nicht, die neuesten Regularien zur nichtfinanziellen Berichterstattung zu kennen und darauf aufmerksam zu machen. Es ist erforderlich, zu verstehen, was dieses Thema mit einem Unternehmen und seinen Funktionen macht, die diese Anforderungen letzten Endes umsetzen müssen. Dabei geht es um Legal und Compliance und um weitere Funktionen wie Risikomanagement, interne und externe Revision, Finance, Controlling, HR, Marketing und Kommunikation – um nur die Wichtigsten zu nennen. All diese Funktionen müssen in dieser Frage eng zusammenarbeiten und ihre Sicht auf die Dinge einbringen, um für das Unternehmen gemeinsam ein optimales Ergebnis erzielen zu können.
… und als Unternehmer relevant für die eigene Operation
Aber auch als Unternehmer, sei es als Partner:in einer Anwaltskanzlei oder General Counsel einer Rechtsabteilung, ist das Thema von Relevanz. Es betrifft neben der Top-Line auch die Bottom-Line. Die Unternehmen müssen beim Einkauf externer Leistungen wie Rechtsdienstleistungen die von ihren Kund:innen an sie gestellten Anforderungen auch an ihre eigenen Lieferanten weitergeben, um weiterhin compliant zu bleiben.
Zusätzlich müssen sich Arbeitgeber auf dem hart umkämpften Rekrutierungsmarkt bewähren. Wollen sie im ‘War for Talent’ erfolgreich sein, müssen sie heute überzeugende Antworten darauf haben, was zum Beispiel ihre Purpose ist oder welcher Beitrag sie zum Klimaschutz leisten. Und wenn man die Erwartungen und Herausforderungen der verschiedenen Bezugsgruppen kennt, kann man sich entsprechend positionieren und schnell und kompetent unterstützen.
Frühlingserwachen in Sachen Nachhaltigkeit
War Nachhaltigkeit nur ein Hype? Kann man sich endlich neuen Herausforderungen wie beispielsweise der KI widmen? Mitnichten! Die nächste Phase zur Nachhaltigkeit wurde kürzlich mit einem veritablen Paukenschlag eingeläutet. Der Verein KlimaSeniorinnen Schweiz führt einen jahrelangen Streit gegen die Schweiz. Die vorerst letzte Stufe bildet das Urteil vom 9. April 2024 des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Darin wurde festgestellt, dass die Schweiz gegen Art. 8 der EMRK (Achtung des Privat- und Familienlebens) verstossen hat.Sie habe zu wenig unternommen, um die Klimaerwärmung zu reduzieren, was insbesondere der Gesundheit von Senior:innen zusetzt.
Ob sich die Judikative mit diesem Urteil zu weit vorgewagt und gar ein politisches Urteil gefällt hat, muss hier nicht weiter diskutiert werden. Übrigens ist das angesichts ähnlich gelagerter Urteile kritisch zu beurteilen. Entscheidend ist, dass dieser Entscheid in ganz Europa Wirkung haben wird. Inwieweit dieses Urteil das Verhalten von Unternehmen ändern wird, muss sich noch zeigen. Auf jeden Fall werden sich diese noch mehr mit der Gefahr von Climate Litigation auseinandersetzen müssen. Ein Segen für prozessierende Anwälte:innen.
Zurück zur eingangs genannten Aussage, ob das Thema Nachhaltigkeit und ESG für Jurist:innen und Anwält:innen relevant sei: Ja, und zwar in verschiedener Hinsicht. Wer darin aber nur eine weitere Umsatzmöglichkeit für Kanzleien oder eine Raison d’être für Rechtsabteilungen erkennt, hat die Tragweite nicht erkannt. Es ist zu befürchten, dass diese Auffassung bei Themen wie Innovation und künstliche Intelligenz dieselbe sein wird.
Über die Autorin / den Autor
Prof. Dr. Bruno Mascello Academic Director Law & Management
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