Wie in den meisten anderen Branchen sind auch im Rechtsmarkt Frauen auf den obersten Führungsebenen immer noch nicht ausreichend vertreten, sei es als Equity Partner in Anwaltskanzleien oder als General Counsel in Rechtsabteilungen. Die Rechtsbranche behauptet oft, dies sei auf nicht verfügbare Talente zurückzuführen. Seien wir ehrlich: Es handelt sich nicht (mehr) um eine Frage der Pipeline, sondern um ein strukturelles Problem, das Vielfalt auf allen Ebenen des Rechtsmarktes verhindert. Es geht um die mangelnde Bereitschaft, sich an Veränderungen anzupassen, um als Arbeitgeber attraktiv zu werden bzw. zu bleiben und um neue und vielversprechende Talente zu gewinnen bzw. zu halten.

Wenn wir uns mit Vielfalt befassen, müssen wir drei Begriffe unterscheiden: Diversität, Gleichstellung und Inklusion. Diversität bezieht sich auf die Zusammensetzung und Verteilung von Menschen in einer Gruppe oder sozialen Einheit nach bestimmten Kriterien, wie zum Beispiel dem Geschlecht. Gleichstellung bedeutet, dass die Verwirklichung von Vielfalt aus moralischer Sicht einfach “das Richtige” ist, um qualifizierten Personen, und zwar unabhängig von ihrem Hintergrund, gleiche Chancen zu bieten. Und schliesslich deckt Inklusion die Potenziale und Mehrwerte auf, die erforderlich sind, um die mit der Einführung von Diversität erwarteten Vorteile und Gewinne zu realisieren. Inklusion stellt sicher, dass die Vielfalt in einem Unternehmen wirklich “gelebt” wird. Wenn es bei der Vielfalt darum geht, die richtigen Leute zu rekrutieren, sorgt die Inklusion dafür, dass die erwarteten Werte auch realisiert werden.

Kritiker mögen bemängeln, Vielfalt mit mehr Aufwand verbunden, verursacht unangenehme Spannungen, Kommunikationsfehler und Koordinationsprobleme und erfordert viel Zeit, um die damit verbundenen Produktivitätsverluste zu steuern. Dies sollte jedoch nicht über die vielen Vorteile hinwegtäuschen, die sich aus der Vielfalt ergeben. Einige der meistgenannten Vorteile sind die folgenden, die insbesondere für Juristen und Juristinnen interessant sein dürften: bessere Entscheidungsfindung und bessere Lösungen aufgrund einer breiteren Perspektive und eines besseren Kundenverständnisses; bessere Leistung und höhere Produktivität, höhere Arbeitsqualität und eine kreativere und gesteigerte Innovationskompetenz. Es steht ein breiterer Rekrutierungs- und Talentpool zur

Verfügung, der eine bessere Ausschöpfung von Talenten und die Nutzung des vorhandenen Potenzials des Einzelnen ermöglicht. Und schliesslich zeigt die Forschung einen Zusammenhang zwischen Vielfalt und finanzieller Leistung, d. h. die Erzielung einer Diversitätsdividende und einer gesteigerten Profitabilität. Wenn es darum geht, einen “Business Case” zum Nachweis der wirtschaftlichen Vorteile vorzulegen, wird oft kritisiert, dass solche Untersuchungen nur eine Korrelation und keine Kausalität aufzeigen. Dies zielt jedoch an der Tatsache vorbei, dass es natürlich nicht ausreicht, einfach nur die Zahl der unterrepräsentierten Personen in der Belegschaft zu erhöhen. Man sollte nicht nur auf die Diversität schauen, sondern auch auf die richtige Einbeziehung (Inklusion). Nur damit kann der volle Wert der Vielfalt ausgeschöpft werden.

Die Kundschaft steht vor komplexen Herausforderungen und ist gezwungen, einen vielfältigen Ansatz zur Lösung dieser Probleme zu wählen. Gefragt ist deshalb Vielfalt bei den Talenten. Für Anbieter*innen juristischer Dienstleistungen könnte es interessant sein zu erfahren, dass eine vielfältige Gruppe intelligenter Problemlöser ein Team aus den leistungsstärksten Mitarbeitenden übertrifft. Dieses Ergebnis hat direkte Auswirkungen auf Anwält*innen und Anwaltskanzleien, die als Problemlösungsorganisationen gelten. Anwaltskanzleien und Rechtsabteilungen müssen sich darauf vorbereiten, in einer immer vielfältigeren Gesellschaft zu arbeiten, in der die Kundschaft solche neuen Standards fordert. Und heute, wo das Thema ESG zunehmend in den Mittelpunkt rückt, könnte dies sogar noch wichtiger werden.

Werfen wir einen letzten Blick auf den Rechtsmarkt. Die gute Nachricht ist, dass es heute für Frauen attraktiv ist, als Anwältin zu arbeiten, und dass die Anwaltskanzleien und Rechtsabteilungen gute Arbeit leisten, attraktiv zu wirken. Erstens müssen Frauen nicht mehr ermutigt werden, zu studieren oder gar ein Jurastudium zu machen. Wenn wir uns die Verteilung der Studierenden an den Universitäten nach Geschlecht ansehen, stellen wir fest, dass seit einigen Jahren mehr Frauen als Männer Jura studieren. Und zweitens wird es für Frauen immer attraktiver, nach dem Studium als Anwältin zu arbeiten, d.h. in Anwaltskanzleien stellen sie gar die Mehrheit der Praktikanten und Associates dar. Die Frauen sind ehrgeizig und wollen Karriere machen. Als Zwischenergebnis kann man also festhalten, dass man sich betreffend der Geschlechterquote beim Einstieg ins Berufsleben nach dem Jurastudium nicht beklagen muss, die Pipeline ist gut gefüllt. Die schlechte Nachricht kommt erst später, wenn es um die Entwicklung, Beförderung und Bindung ans Unternehmen geht. Hier haben Anwaltskanzleien noch viel Arbeit vor sich.

Die Rechtsbranche kann es sich nicht mehr leisten, verfügbare und wertvolle Ressourcen weiterhin zu verschwenden. Im Gegenteil, die Öffnung des Arbeitsmarktes auf allen Ebenen für ein vielfältiges Team kann einen Arbeitgebenden auf dem Rekrutierungsmarkt positiv positionieren, um der attraktivste Arbeitgeber*in zu werden und die besten Talente auf dem Markt zu gewinnen. Langfristig kann dies die benötigten menschlichen Ressourcen auf nachhaltige Weise sichern. Um den am Anfang geöffneten Kreis zu schließen: Es geht auch in der Rechtsbranche um richtige Leadership und optimiertes Ressourcenmanagement.

 

 

[Ein umfassender Artikel zu diesem Thema wird im Herbst 2021 erscheinen in folgendem Sammelband: Bruno Mascello (Hrsg.), «Beiträge zu aktuellen Themen an der Schnittstelle zwischen Recht und Betriebswirtschaft VII.]

Über die Autorin / den Autor

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Prof. Dr. Bruno Mascello Academic Director Law & Management

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